»Sugar daddies« in nuce
Eingefasst in edle Walnussrahmen präsentiert Marcel Buehler 180 Bildcollagen unter dem Titel »Die halbe Reise«.
Die Reisegeschwindigkeit, mit der die Gedankenwelt des Künstlers erschlossen werden will, liegt weit über dem normalen Schlurfgangtempo des Kunstverständigen, dessen oftmals gespieltes Phlegma so manchen künstlerisch-geistigen Höhenflug in zeitgenössischen Galerien zu bremsen pflegt. Zeitlupenanalysten und Entschleunigungsconnaisseure werden zur Buehlerschen Mindmap also nur schwer Zugang finden – gleicht dieser Zugang doch einer Abschussrampe mit Schleudersitz. Beim Betrachten wähnt man sich auf Geistesblitze geschnallt, die einen – zzzzosch – in halsbrecherischem Tempo in die eine Ecke des Bühlerschen Kopfes katapultieren, nur um im selben Moment – zzzzwusch – in die entgegensetzte Richtung auszubrechen. Ohne einer festgelegten chronologischen oder thematischen Reiseroute zu folgen, fegen wir durch das Künstlerhirn. Schon Francis Picabia wusste die runde Form des menschlichen Kopfes zu schätzen: schließlich könne dank Wölbung des Schädels das Denken ständig die Richtung wechseln.
Ähnlich dem realen Denkvorgang, bei dem sich ständig neue Assoziationen und Gedankengänge bilden, rauschen wir durch ein gedankenbildliches Feuerwerk, ergötzen uns an den unzähligen Ideeneruptionen, weiden uns an beißender Ironie oder goutieren Buehlers feinperligen Humor – und der ist erfrischenderweise allgegenwärtig: Von schmunzelnd bis messer-scharf-züngig spürt Buehler die Verstecke gewollter Ernsthaftigkeit auf und hinterfragt vermeintlich Faktisches und Festgeschriebenes.
Innerhalb des strengen Ordnungsgitters von vier Reihen mit je 45 Werken werden Denkmuster, Hierarchien, Prinzipien und Kategorien zur Diskussion gestellt und neu definiert. Seitlich gedacht und souverän in feine Scheiben von 18 auf 25 Zentimeter Bildgröße tranchiert, setzt Buehler verschiedenste kunstgeschichtliche, gesellschaftliche, künstlerisch-ästhetische und politische Themen auf die Tagesordnung, die schlussendlich einem eng geflochtenen Luntenteppich gleicht: An verschiedensten Ecken in Buehlers Denkapparat knallt, pufft und lodert es. Unser Blick springt ständig zwischen klar Formuliertem und nebulös Verschwommenem hin und her, zittert zwischen Verhülltem und Gebrülltem, bebt zwischen Beißendem und Schmeichelndem, und wankt zwischen Tiefgang und Flachwasser, feinem Bütten und funkelndem Plastik-Glitz, Alten Meistern und Männermagazinen, hehrer Kunstgeschichte und poppigem Alltagsmüll.
Scheinen einzelne Collagen den Betrachter sirenenhaft zum Eintauchen in ihre Miniaturwelt zu verführen, so donnert Buehler nur ein paar gerahmte Gedankenkracher später ein markerschütterndes GET OFF MY BACK YOU’RE A REAL PAIN IN THE ASS in die Welt hinaus. Heute, konstatieren wir beim erschrockenen Zurückweichen, sollte man den Künstler wohl besser nicht um Erläuterung des Geschauten bitten. Wir versuchen es auf eigene Faust:
Ein paar Walnussleisten weiter zündet Buehler die nächste Denkgranate und lockt mit einer süßen Sahnetorte zur Auseinandersetzung mit dem Künstlersein. 1961 hat Piero Manzoni, der gern in limitierter Auflage Verdautes in Weißblech hüllte und ertragreich veräußerte, »magische Podeste« entworfen – leere Skulpturensockel: »Stell’ Dich darauf und Du bist Kunst«, so der Ansatz Manzonis. Buehlers Sahnetorte wird zur cremig-glitschigen Probebühne, auf der ein Künstler die ersten Gehversuche macht. Schuhe warten auf den Künstleraspiranten, die es zu füllen gilt. Sind die Clownspantinen ein Seitenhieb auf die heutige Spaßgesellschaft, in der ein Künstler nur zum lustigen »Aus-der-Torte-Springen« gelitten ist, also keine ernsthaften Absichten hegt oder tiefgründige Fragen aufwirft?
Das Bild ist so vielschichtig wie die Sahnetorte mehrstöckig ist: Vielleicht stand bis vor kurzem auch noch ein Künstler auf dem Konditorwerk, und die Schuhe sind das einzige Überbleibsel. Haben sich während des längeren Betrachtens nicht die im Bildhintergrund angeordneten Linienknäule zu kleinen Kissen zusammengefügt? Zu Reinigungskissen aus Stahlwolle, mit denen man bekanntermaßen im Haushalt Schmutzherden und Fleckenteufeln zuleibe rückt? Vielleicht wurde der frisch gebackenen Künstler, um ihn alltagstauglich und geschmackkonform zu machen, mit eben solchen Reinigungskissen geschrubbt, gerieben und gerubbelt. Und das so stark, daß er sich – all seiner Unzulänglichkeiten, charaktervollen Kanten, bitteren Beigeschmäckern und schmutzigen Winkeln beraubt – letzten Endes in Luft aufgelöst hat. Ohne geistreiche Künstler aber herrscht nur gähnende Leere, langweiliges Nichts – »Void«.
Buehlers Bilder verkürzen den Blick nie auf eine bestimmte Perspektive. Die Gedanken reisen frei und die Vielschichtigkeit dieser mal pointierten und mal flüchtigen Gedankenbilder ist faszinierend. Obwohl so manches einzelne Werk zur Aufgabe zwingt, noch bevor es dechiffriert werden kann, ist »Die halbe Reise« Buehlers leidenschaftliches Plädoyer für mehr Inhalt in der Bilderflut, die uns jeden Tag und jeden Wimperschlag umgibt. Buehler will Bilder nicht als gedankenlose Augenweide oder oberflächlichen Retinagloss, sondern als Kraftfutter für das Hirn.
Mitten im mentalen Geschwindigkeitsrausch, der uns noch einmal an den vielen Werken vorbeisausen lässt, entdecken wir das Statement: NOT DONE YET, das uns mit funkelnden Reflektorperlen richtungsweisend entgegenstrahlt. So sind also diese fabulösen Walnussrahmen vor unseren Augen nur die eine Hälfte einer größeren Reise? Wir werden herbeieilen, mit leuchtenden Augen und viel Traubenzucker fürs Gehirn, wenn uns Marcel Buehler die nächsten 180 harten Kopfnüsse zum Knacken freigibt.
Abb.: Marcel Buehler: Die halbe Reise, 2009 (mixed media)