Prime Cut aus dem Anthropozän

Das rohe Steak schimmert in saftigem Dunkelrot. Sorgfältig trägt Matthias Mross die Farbe mit senkrecht gestelltem Pinsel auf. Mit den kompakten Tupfern bildet er die Enden der sauber gekappten Muskelfasern nach. Man möchte es anfassen, dieses kühle, frische Stück Fleisch, seine weiche Elastizität fühlen. Für die Marmorierung zieht Mross feine Weißäderchen ein. Das Fettgewebe spachtelt er mit verschiedenen Weißtönen dick übereinander, bis es schmelzig glänzt. Die markanten Fettkerne klassifizieren das Steak als prächtiges Rib-Eye.

Stattliche dreieinhalb Quadratmeter misst die Auftragsarbeit. Farbsatt hängt sie im Speiseraum des Langen Hauses der Stiftung Kunst und Natur. Mross scheint die gewaltige, vornehm neutral riechende Fleischscheibe direkt aus unserer Alltagswelt geschnitten zu haben. Schon die Dimension bekundet den Fleischhunger unserer Gesellschaft. Statt »Anthropozän« könnte auch der Begriff »Rinderzeit« das aktuelle Erdzeitalter beschreiben. Denn unsere Lust auf Rindfleisch ist gewaltig. Von den 60 Kilogramm Fleisch, die wir statistisch im Jahr essen, sind rund sieben Kilogramm Rind. Unser Appetit auf Steak & Co. überformt die Erde massiv. Enorme Flächen für Weidehaltung und Futteranbau werden ge- und verbraucht. Schon heute bearbeiten wir Dreiviertel der gesamten Agrarfläche unseres Planeten für Tierhaltung. Und die Weltbevölkerung wächst: Bis zum Jahr 2050 um 30%. Und mit ihr wächst das Verlangen nach Fleisch. Allein die Vorstellung eines solch immensen Fleischbedarfs wirkt beklemmend.

Ein ganz ähnliches Unbehagen beschleicht uns, je länger wir vor Mross‘ monumentalem Fleischstück ausharren. Überwältigt schwanken wir zwischen Faszination und einem sich langsam ausbreitendem Ekel. Wir sind begeistert von der genussversprechenden Fleischqualität und vom großen malerischen Können, mit dem Mross uns einen solchen Prime Cut in radikaler Nahsicht präsentiert.

Zunehmendes Unbehagen bereitet uns neben der erdrückenden Größe des Fleischstücks die Masse des eingeschlossenen Fettgewebes. Schwellend und glibbernd schiebt es sich zu großen Klumpen zusammen. Sie bilden bei längerem Hinschauen ein großes Prozent-Zeichen.

Abb.: Matthias Cross: %, 2019 (220 x 150 cm, Acryl und Sprühdose auf Leinwand). Eine Auftragsarbeit der Stiftung Nantesbuch zu den Anthropozän-Thementagen 2019 in Kooperation mit dem MUCA München.

Um den prozentualen Fettanteil im edlen Stück, den Feinschmecker mit dem berühmten »Beef Marbling Grade« angeben, geht es hier aber kaum. Vielmehr wirft Mross die allgemeine Frage nach der Verhältnismäßigkeit auf, nach Wechselbeziehungen in Relation zu einem größeren Ganzen. Während seiner Arbeit an zarten Fleischfasern und feinen Fettmarmorierungen hört Mross tagelang Podcasts zu unserem Fleischkonsum und industrieller Fleischproduktion. »Massentierhaltung ist für bis zu 51% der von Menschen erzeugten Treibhausgase verantwortlich« tönt es durch das Studio des Künstlers. »95% des weltweit angebauten Sojas ist als Futtermittel für die Nutztierhaltung bestimmt« ist ein Fakt, die ebenso nachklingt wie die Aufrechnung, daß »nur 50% eines Nutztieres für Fleischproduktion verwendet wird. Lediglich ein Drittel machen die „edlen Teile“ des Muskelfleisches aus…« Aber für ein Gourmetstück sind die von Mross großzügig aufgespachtelten intermuskulären Fettkerne viel zu dominant. Sie offenbaren einen zu hohen und zu schnellen Ausmästungsgrad und verweisen auf die Schattenseiten großindustrieller Fleischproduktion. Das unappetitlich fette Prozent-Zeichen hat einen kräftigen kommerziellen Beigeschmack. Denn heutzutage verweist das jahrhundertealte Kaufmannssymbol in den Kühltheken der Supermärkte auf Sparangebote, Rabattaktionen und Tiefpreisknüller: Hier gibt es viel Fleisch für wenig Geld. Billiges Fleisch beruht auf einem Raubbau von ökologischen und personellen Ressourcen.

Mross‘ Marko-Ansicht der Fleischscheibe und der radikale Anschnitt des riesigen Prozent-Zeichen vermitteln eine hohe Dringlichkeit, eine unangenehme, weil zu große Nähe. Das Werk rückt uns gehörig auf die Pelle – die Kunst geht im sprichwörtlichen Sinne unter die Haut. Der dabei immer wieder aufkeimende Ekel ist ein vom Künstler wohlkalkulierter Thrill: Ins Unappetitliche oszillierende Szenarien stillen im wohlstands-sicheren, erregungsarmen Anthropozän-Alltag unseren Hunger nach Affekten. Eine latent ekelige, monströse und mit zu viel Fett durchschwabbelte Fleischscheibe fesselt da sofort unsere Aufmerksamkeit. Bewußt Hinschauen, lautet der Apell. Matthias Mross‘ monumentale Arbeit „%“ ist eine virtuos gemalte Ermunterung, uns die Bedeutung zeitgemäßen Fleischgenusses nachdrücklich ins eigene Fleisch und Blut übergehen zu lassen.

Den obigen Text habe ich für die sehr lesenswerte Publikation NOTIZEN AUS DEM ANTHROPOZÄN der Stiftung Nantesbuch Kunst und Kultur geschrieben. Das reich illustrierte Buch mit dem eingelegten Kurz-Comic „Mahlzeit“ von Thomas Gilke kann dort online bestellt werden.