Black Label Shopping im Vollsortimenter

Ein erster kunstvoller Blick

Gern schlendere ich durch die Münchner Fünf Höfe, das elegante Stadtquartier von Herzog & de Meuron. Es ist Samstag früh im Monat fünf des Pandemie-Lockdowns. Nur wenig Flaneure streifen mit mir durch die Passage, als die Dauermieter grüßen: Thierry Mugler residiert – Corona sei Dank – seit über einem Jahr in den Sälen der Kunsthalle. Ein paar Schritte weiter ulkt Alberto Alessi unverdrossen zuverlässig auf seiner Schaufensterbühne, während schräg gegenüber Giorgio Armani wieder einmal mit stoischer Grandezza die imaginäre Biscotti-Krümel von seinen verwaisten Caffè-Tischen wischt.

Heute empfinde ich auf meinem Weg zum Supermarkt eine gewisse Vorfreude. Außergewöhnlich! Normalerweise ist der Gang zum Vollsortimenter lästige Routine. Das Einsammeln bekannter Lebensmittel erfolgt im geistigen Stand-By innerhalb der Komfortzone meines etablierten Food-Radiuses. Doch heute ist etwas anders. Heute schlüpfe ich in die Rolle des Black Label Shoppers. Denn es geht um wertvolle Einzelstücke, Luxusartikel, Kunst-Unikate, die mit kleinen schwarzen Bild-Schildchen gekennzeichnet worden sind. Eine Warenwelt wundervoll durchzogen von frischer hoher Kunst. Das wird ein Spaß! Der Erlebnishöhepunkt liegt allerdings ziemlich tief. Rein räumlich gesehen. Black Label Shopper tummeln sich gern in höheren Sphären. Bei Saks Fifth Avenue beispielsweise gilt der der Third Floor als bevorzugtes Pirschgebiet. In München geht’s zum Black Label Shopping direkt ins Souterrain: Unter der gewaltigen „Sphere“ von Olafur Eliasson hindurchgeduckt gleich links hinab in die verheißungsvolle feinsinnige Welt von REWE Premium.

Eigentlich alles chic wie immer… Doch schon im ersten Ganz des Regalspaliers, eingekeilt zwischen Süßwaren und Eistee, türmt sich eine unüberwindbare Barriere.

541 Packungen Prinzenrolle blockieren meterhoch den Durchgang. Selbst den Sockellichtstreifen der Regale hat Thomas Rentmeister mit seiner Installation gekappt. Bis hierher und nicht weiter! Das Angehaltenwerden wird rasch zum freiwilligen Innehalten, die Zumutung wird anmutig. Der Künstler versteht es, ein industriell gefertigtes Massenprodukt derart repetitiv zu stapeln und raumgreifend zu positionieren, dass ein Meisterstück des zeitgenössischen Minimalismus daraus entsteht. Die kakaocremegefüllte Installation hat keine Schokoladenseite, vielmehr zwei vollkommen eigenständige Schauseiten, je nachdem, ob man die Standböden oder Oberseiten der Prinzenrollen ins Visier nimmt. Dank der überlappenden Umschlagfalzen wirken die Böden wabenartig luftig, während die Oberseiten zu einer monochrome blaue Wand verschmelzen.

Wie essen Sie eigentlich Ihren Doppelkeks? Vertilgen Sie ihn hälftig mit gewaltigem Haps? Oder knabbern Sie genüßlich den überstehenden Keksrand rundherum ab? Oder drehen Sie gar die Hälften auseinander, um die mit den anhaftenden Kakaotaler zu einem Double-fill-Sandwich zusammenzupressen? Rentmeisters Sackgasse bewirkt Erstaunliches: Wo sonst die Kleinen quengeln, entspinnen Erwachsene kulinarische Fachgespräche. Konstant hohes Niveau gibt es auch beim Preis. Trotz augenzwinkernden Mengenrabatts – 10% Discount ab 5 qm – wird hier nichts verschenkt. Also: Rolle rückwärts, und weiter geht’s! Nach dem Süßen zieht es mich zum Frischen.

Vereinzelung in der Obstabteilung ist man gewohnt: Besondere Prachtexemplare der Angebotssorten werden mit „Flugware“-Aufklebern geadelt, behutsam auf rautenförmige Schaumstoffnetze gebettet oder gelegentlich in raschelndes Seidenpapier eingeschlagen. Eine Wassermelone unter einer Plexiglashaube, verschraubt mit dem Regalfach und versehen mit dem Hinweis „Bitte nicht anfassen“, ist selbst mir noch nicht untergekommen. Auch die Sorte ist neu: „Mars-Melone“ zeigt das Black Label Schildchen. Gemessen am 56 Mio. Kilometer langen Transportweg vom roten Planeten zur Erde scheint diese grüne Melone mit 16.000 EUR das Stück recht günstig ausgepreist.

Geschaffen hat sie Alicja Kwade, Fixstern am zeitgenössischen Kunst-Firmament. Und Planeten sind ihr Ding. Den Himmel materialisiert Kwade schon mal mit strahlend blauem Quarzit auf dem Biennale-Kunstweg im holländischen Drenthe, bevor sie auf dem Dach des New Yorker Metropolitan Museums ein ganzen Planetensystem installiert. Hier nun ihre Mars-Melone. Herrlich aktuell, denn genau jetzt arbeitet sich der NASA-Rover „Perseverance“ mit seinem Heli durch den Staub des Jezero-Krater, einem trockengefallenen See auf dem Mars. Wasser ist mit das kostbarste Gut im All. Schon auf der ISS wird jeder Tropfen, der beim Zähneputzen ausgespuckt wird und beim Duschen übrigbleibt oder durch Schweiß und Urin anfällt, aufgefangen und aufbereitet. Eine Wassermelone mit 95% Wasseranteil im Fruchtfleisch erscheint da wie ein Geschenk des Himmels! Dem rastlosen, (see)reisenden Menschen ist sie seit einem halben Jahrtausend ein bewährter Flüssigkeitsspender. Warum nicht auch für Astronauten? Im All werden bereits Gurken, Tomaten, Römersalat, Paprika und Erdbeeren gezüchtet. Vielleicht schon bald echte Mars-Melonen? Wer Kwades Exemplar in Preis und Gewicht (solider Bronzeguß) astronomisch findet, greift links daneben: Hier ist eine Mini-Wassermelone aus Costa Rica für bodenständige 3,49 EUR das Stück zu erwerben. Ebenfalls Klasse 1.

Entzückt bummle ich am Gemüseregal entlang weiter zur „Gastro to go.“ – „Aloha; was haben wir denn hier?“, flüstere ich erstaunt. Anstelle appetitlichen Gedränges vieler herzhafter Snacks herrscht in der Auslage der Heißtheke abgezirkelter Abstand: Sieben schmelzende Toast-Hawaii verharren in großzügiger Entfernung voneinander und formen auf schwarzem Metall ein käsegoldenes „H“. Mittelstrich – Mittelstück des Buchstabens bildet Chris Knechts täuschend echt gearbeitete Skulptur des überbackenen Sandwiches mit hervorlugender Schinkenscheibe. „Öl auf Bronze“, konstatiert das Black Label Schildchen. Die Kombination von Edelmetall und Fleischscheibe hat erst seit kurzem einen Beigeschmack: Seinerzeit verbrannte sich in Dubai ein Bayern-Fußballstar an einem Blattgold-Steak gehörig die Finger. Da war Knechts bronzener Toast Hawaii schon acht Jahre servierfertig und in den Kanon der Koch-Kunst aufgenommen.

Selbst die Ananas allein ist jedes Kunstwerks würdig. Seit dem 17. Jahrhundert ist sie ein Statussymbol. Kolumbus bekam Prachtstück geschenkt, und nach Atlantikquerung derselben versuchten sich etliche europäische Adelshäuser im komplizierten Anbau. Da dieser nur höchst selten gelang, war sie die so teuer wie eine Kutsche. Zum Beeindrucken seiner Gäste konnte man sich eine Ananas als Tischschmuck tageweise mieten – ähnlich wie heutzutage ein Diamantcollier zur Met-Gala in New York. Die sündhaft teure Mietfrucht auf dem Festbankett wurde nie gegessen.

Um Ananas zu einem Alltagsprodukt zu machen, brauchte es einen 22 Jahre jungen Harvard-Absolventen. Der gründete 1901 das Frucht-Start-Up Dole auf Hawaii und nutzte eine Schälmaschine, die 85 Ananas pro Minute auf Dosenformat trimmte. Der Toast Hawaii lag in Reichweite. Dosenananas exportiert heute die thailändische Region Pranburi. Aus Hawaii kommen nur noch die gleichnamigen Hemden mit dem farbenfrohen groß-gemusterten Print. Elvis Presley machte sie Anfang der 1960er Jahre in Deutschland populär. Der Toast Hawaii war da schon seit mehr als fünf Jahren in aller Munde. Doch dem King schmeckte ein anderer fruchtig-herzhafter Grill-Sandwich besser: Elvis Presely liebte den „Fool’s Gold Loaf“: Bananenscheiben und knusprigen Speck lagen auf einem dick mit Peanut-Butter bestrichenen Sauerteigbrot.

Der Teig für eben jenes Brot lagert eine Ecke weiter im Getränke-Kühlregal. Zwischen elegant hochgewachsenen Champagnerflaschen aus den ehrwürdigen Grandes Maisons Pommery, Moët, Veuve Cliquot und Ruinart hockt grobschlächtig im breiten Weck-Glas Peter Langenhahns blass aufgequollene Roggensauerteig.

Und doch teilen beide Nahrungsmittel, die äußerlich unterschiedlicher nicht sein könnten, den gleichen Treibstoff: Hefepilze. Sie sind es, die moussieren und fermentieren, die für Perlen im Glas und Poren in der Krume sorgen und das Aroma tragen. Neben aller wohlwollend ausgewogenen Wertschätzung gärt dennoch der Reflex zum Werturteil. Wie kann man einen so plumpen Teigbatz nur zu so feiner Gesellschaft stellen? Roggensauerteig in diesem Vergleich als „Hochkultur“ zu titulieren? Ich bitte Sie! Leise bemerke ich eine faszinierende Umwertung. Ist in allem Überfluß der schönen Flaschen und verschwenderischen Perlage nicht das einfache, handgemachte Brot der wahre Luxus? Ich mag mich nicht entscheiden und freue mich einfach an der inspirierenden Platzierung des Werks.

Ein Bummel entlang der Sushi-Bar bringt ich zur Käsetheke. Auf der Glashaube derselben erwartet mich eine Rarität: „La Vache quir rit“, französischer Schmelzkäse – 72 Monate gereift. Das seit einem guten halben Jahrzehnt überschrittene Mindesthaltbarkeitsdatum läßt den Black-Label-Vermerk „unverkäuflich“ als fürsorglichen Gesundheitshinweis erscheinen. Ein wenig neidisch bin ich schon auf den generösen Besitzer und Leihgeber dieser exquisiten Arbeit von Thomas Bayrle. Der Piktogramm-Virtuose zeichnet im eingefärbten All-Over-Muster des grinsenden Huftiers ein Frauenkopf nach – angeblich das Mädchen vom Lande, das ins große Paris kommt.

630 Mädchenkopf-Käseschachteln hat Bayrle für den Hersteller Bel gefertigt, der seit 2014 zeitgenössische Künstler Verpackungen in limitierten Editionen veredeln läßt. Diese Sammlerstücke von Bayrle, Hans-Peter Feldmann, Jonathan Monk, Wim Delvoye, Karin Sander, Daniel Buren und – aktuell – Mel Bochner kann man zum regulären Preis im westlich des Bois de Boulogne gelegenen Lab Bel, im Online-Shop und in ausgewählten E.Leclerc-Märkten kaufen. Nur leider hier und heute im REWE nicht – da „unverkäuflich“. Wirklich Leider. Und irgendwie erleichternd – denn wie hätte ich mich beim Kauf eines frischen Bayrle entscheiden sollen? Hätte ich das Gesamtwerk mit Käse bewahrt? Oder den Inhalt verspeist, und eine leergefutterte Editionsschachtel in die Vitrine gestellt? Die zweite Wahl scheint zumindest olfaktorisch ein zufriedenstellendes Langzeitergebnis zu liefern.

Apropos Frankreich und Käse: In Pandemie-Zeiten ist der Käse-Konsum unserer westlichen Nachbarn nicht merklich gestiegen. Wohl aber– so kolportierte es die Presse vor gut einem Jahr – zogen in Frankreich der Verbrauch von Rotwein und Präservativen merklich an. Die Interessen in der Bundesrepublik waren weit weniger wildromantisch. Wir nahmen die Ansage nach sozialer Distanz ernst und zogen uns – gedanklich – bis in den hintersten Winkel unser eigenen Wohnungen zurück, ganz weit, allein aufs stille Örtchen. Folgerichtig brauchten wir für die imaginierten Monate totaler Selbstisolation auf dem Wasserklosett ausreichende Mengen Klopapier. „Völlig von der Rolle“ bespöttelte die FAZ Anfang März 2020 unsere Hamsterkäufe nach dem begehrten Gut. Wir trieben die Nachfrage nach samtweicher Abroll-Perforation um 70% in die Höhe, so daß wir wochenlang vor leeren Toilettenpapierregalen standen und Nachlieferungen streng rationiert wurden. Eine heikle Hakle-Situation. Rückblickend wirkt diese Sturm-und-Drang-Phase deutlich überreizt.

Umso schöner ist die kunstvolle Vergangenheitsbewältigung, die uns Esther Zahel mit Ihrer phantastischen Assemblage im Hygieneartikelbereich offeriert. Neun geheimnisvoll durchgefärbte Toilettenpapierrollen funkeln auf Augenhöhe, davor drei Rollen zum direkten Herunterspulen, Abreißen und – Falten. Nur nicht knüllen! Denn auf jedes Dreilagenblatt legt die Künstlerin ein tiefsinniges Textgitter: „Das Universum in einer Klorolle.“ Insgesamt sechs Blätter brauche ich, um die drei Kapitel vom „Irrelevanten“ bis zum „Wächter des Orakels“ vollständig lesen und intellektuell verdauen zu können. Sechs Blätter – zwooosch, abgerissen. Ist das schon Hamstern?

Versöhnt mit allen Facetten des Seins und kunstinspiriert bis hinauf in die Haarspitzen eile ich federnden Schritts zur Kasse. „Consommer ou mourir“, donnert mir das kantige Trio der Warentrenner auf dem Kassenband entgegen. „Herrje“, murmle ich und lese das dahinter aufgepflanzte Schild „Diese Kasse ist gerade geschlossen“. Diese Sackgasse wird mir doch ein wenig zu existenzialistisch, und so drängle ich munter ans benachbarte Band. Auch hier war Milen Till fleißig und zitiert Barbara Kruger’s weltberühmten „Truisim“: „I shop therefore I am.“

Wie wahr, wie wahr, schmunzle ich, und vergewissere mich mit einem Schulterblick des wahrhaft großartigen Kunstgenusses in diesem Supermarkt. Ein Black Label Spektakel mit 20 Kunststationen, die aufs Schönste zeigen, wie Kunst prägnant in den Alltag diffundieren kann.

Die Treppe hinaufrollend hinein ins Tageslicht der Fünf Höfe zieht es mich eigentlich direkt gegenüber ins Victorian Teahouse zum kurzen Innehalten und Nachklingen bei einer Tasse Gunpowder. Aber die Gyosas müssen in den Kühlschrank – der Alltag hat mich wieder.

Husein Dugonijc (rechts), Marktmanager REWE Premium Fünf Höfe, mit Jörg Garbrecht vor Nata Togliattis "Apples d'oro"

GROSSEN DANK

an die Kuratorin Nata Togliatti und die Veranstalter: Husein Dugonijc (REWE Premium Fünf Höfe), Alexander Rußler (REWE Group), Dr. Sabine Adler, ERES-Stiftung Kunst + Wissenschaft / München, Professor Florian Matzner, Akademie der Bildenden Künste / München und Sarah Haugeneder, Louis Vuitton Deutschland,

sowie

alle Künstlerinnen und Künstler:

Tornike Abuladze, Thomas Bayrle, Natalyia Borushchak, Miriam Ferstl, Gregor Hildebrandt, Chistian Jankowski, Chris Knecht, Daniela & Lara Koch, Peter Kogler, Schirin Kretschmann, Alicja Kwade, Peter Langenhahn, Jaemin Lee, Thomas Rentmeister, Michael Sailstorfer, Johanna Strobel, Milen Till, Nata Togliatti und Esther Zahel.


»Schwarze Sonne«

Lieber Eiko,

draußen über der Marsch steht die Nacht. Vor mir ausgebreitet liegen 18 Monotypien aus Deiner Mappe »Sort Sol / Schwarze Sonne«. Zwischen den wuchtigen Blättern dampft munter einer Espresso. Der schwarze Trank entzünde die Nerven, sagte der Nachtarbeiter Balzac, und lassen Funken sprühen bis ins Gehirn hinauf.

Befeuert vom Willen, die Tiefgründigkeit Deiner eindringlichen Flachdrucke in Worte zu fassen, greife ich zu Stift und Papier. Erschüttert vom Kontrastdonner zwischen Druckerschwärze und Sternenwolkenweiß durchmißt das Auge Deine gewaltigen Bildräume. Die Weite der Landschaft und der hohe Himmel, der über ihr wacht, vertreiben kleinliche Gedanken ebenso nachdrücklich wie Deine große malerische Geste. Kühn greift die Phantasie nach der dargebotenen Möglichkeit, größere Zusammenhänge zu erschauen: Die Nachtdämmer und Schwarm-verdunkelten Sonnen weiten sich ins Überzeitliche und lassen an das Zwielicht der Schöpfungstage denken, an biblische Plagen und endzeitliche Finsternis.

Im Herzen des Gotteskooges hast Du diese Monotypien erschaffen, in diesem Urzeit-atmenden Tiefland. Du hast sie erkannt, die verborgene Urkraft dieser Landschaft, verdichtet und verbildlicht. Du zeigst die Gegend der weiten Blicke nicht wie sie aussieht, sondern wie sie sich anfühlt. Ihre überzeitliche Grandeur spürst Du im Dämmerlicht auf und im glimmenden Nachtfirmament - dann, wenn unser Auge von der bunten, zappeligen Alltagswelt befreit ist. Mit ihrer triumphalen innerbildlichen Größe und dem ihnen innenwohnenden Gefühl der Freiheit zwingen uns Deine Arbeiten aufs Schönste zum Nachsinnen. Was bedeuten grenzenlos struppige Weiten, unendliche Dämmerhimmel, Abdrücke erodierter Vegetation und in gleißendes Blendlicht geworfene Wildtiere?

Deine »Sort Sol / Schwarze Sonne« Arbeiten fragen nach dem Rauheitsgrad der Schönheit, schreien stumm gegen die Vergänglichkeit und sind Sinnbilder einer stillen Sehnsucht nach Verwurzelung und Heimat.

Das distinguierte Hochplateau Deiner früheren Arbeiten - detailversessen feine Bleistiftzeichnungen - hast Du verlassen für einen Gewaltritt ins Tiefland des instinktiv sinnlichen Druckhandwerks. Deine neu entdeckte Freude am unmittelbaren, freien Ausdruck belebt die Werke: Mit Fingerkuppen, Handballen, Pinseln und Lappen scheinst Du in den malerischen Prozeduren zu schwelgen, die dem einmaligen Druck jeder einzelnen Monotypie vorauseilen: Du streichst, wischt, kratzt, lasierst, tupfst, schabst, reißt, klebst und collagierst mit furioser Leidenschaft bis eine ergreifend spröde Schönheit das Werk durchbebt. Deine Bildwelten bannst Du auf gebrauchtes, vergilbtes, antiquarisches Papier: So weitet sich eine Landschaft kraftvoll gelassen auf dem unerbittlich strengen Linienraster eines alten Kontobuchs. Einmal wird uns gewiß die Rechnung präsentiert, schreibt der Kirchenmann Zanetti, »für den Wind, den Vogelflug und das Gras, ... für die Luft, die wir geatmet haben, und den Blick auf die Sterne - und für all die Tage, die Abende und Nächte. Einmal wird es Zeit, daß wir aufbrechen und bezahlen ... Doch wir haben die Rechnung ohne den Wirt gemacht: 'Ich habe Euch eingeladen', sagt er und lacht, 'es war mir ein Vergnügen.'«

In stillen Augenblicken ergreift mich immer wieder eine leise religiöse Ehrfurcht vor der Schönheit des Gotteskooges, der Du im Zwielicht mit der von Dir so geliebten Baudelaireschen Melancholie in 150 »Sort Sol / Schwarze Sonne«-Monotypien ein bildnerisches Denkmal gesetzt hast. So vereinen sich denn auch auf einem Deiner Blätter zwei tiefschwarze, weit über das Papier hinausstoßende Balken zu einem gewaltigen Markierungskreuz: Eiko Borcherding was here, and left his mark.

Es grüßt Dich herzlich aus der nächtlichen Marsch - ein großer Freund Deiner Kunst.

Abb.: Eiko Borcherding: Sort Sol, 2010 (Monotypie und Gouache, 42 x 29,7 cm); Eiko Borcherding: Sort Sol, 2010 (Monotypie und Gouache, 29,7 x 42 cm)


»Sugar daddies« in nuce

Eingefasst in edle Walnussrahmen präsentiert Marcel Buehler 180 Bildcollagen unter dem Titel »Die halbe Reise«.

Die Reisegeschwindigkeit, mit der die Gedankenwelt des Künstlers erschlossen werden will, liegt weit über dem normalen Schlurfgangtempo des Kunstverständigen, dessen oftmals gespieltes Phlegma so manchen künstlerisch-geistigen Höhenflug in zeitgenössischen Galerien zu bremsen pflegt. Zeitlupenanalysten und Entschleunigungsconnaisseure werden zur Buehlerschen Mindmap also nur schwer Zugang finden – gleicht dieser Zugang doch einer Abschussrampe mit Schleudersitz. Beim Betrachten wähnt man sich auf Geistesblitze geschnallt, die einen – zzzzosch – in halsbrecherischem Tempo in die eine Ecke des Bühlerschen Kopfes katapultieren, nur um im selben Moment – zzzzwusch – in die entgegensetzte Richtung auszubrechen. Ohne einer festgelegten chronologischen oder thematischen Reiseroute zu folgen, fegen wir durch das Künstlerhirn. Schon Francis Picabia wusste die runde Form des menschlichen Kopfes zu schätzen: schließlich könne dank Wölbung des Schädels das Denken ständig die Richtung wechseln.

Ähnlich dem realen Denkvorgang, bei dem sich ständig neue Assoziationen und Gedankengänge bilden, rauschen wir durch ein gedankenbildliches Feuerwerk, ergötzen uns an den unzähligen Ideeneruptionen, weiden uns an beißender Ironie oder goutieren Buehlers feinperligen Humor – und der ist erfrischenderweise allgegenwärtig: Von schmunzelnd bis messer-scharf-züngig spürt Buehler die Verstecke gewollter Ernsthaftigkeit auf und hinterfragt vermeintlich Faktisches und Festgeschriebenes.

Innerhalb des strengen Ordnungsgitters von vier Reihen mit je 45 Werken werden Denkmuster, Hierarchien, Prinzipien und Kategorien zur Diskussion gestellt und neu definiert. Seitlich gedacht und souverän in feine Scheiben von 18 auf 25 Zentimeter Bildgröße tranchiert, setzt Buehler verschiedenste kunstgeschichtliche, gesellschaftliche, künstlerisch-ästhetische und politische Themen auf die Tagesordnung, die schlussendlich einem eng geflochtenen Luntenteppich gleicht: An verschiedensten Ecken in Buehlers Denkapparat knallt, pufft und lodert es. Unser Blick springt ständig zwischen klar Formuliertem und nebulös Verschwommenem hin und her, zittert zwischen Verhülltem und Gebrülltem, bebt zwischen Beißendem und Schmeichelndem, und wankt zwischen Tiefgang und Flachwasser, feinem Bütten und funkelndem Plastik-Glitz, Alten Meistern und Männermagazinen, hehrer Kunstgeschichte und poppigem Alltagsmüll.

Scheinen einzelne Collagen den Betrachter sirenenhaft zum Eintauchen in ihre Miniaturwelt zu verführen, so donnert Buehler nur ein paar gerahmte Gedankenkracher später ein markerschütterndes GET OFF MY BACK YOU’RE A REAL PAIN IN THE ASS in die Welt hinaus. Heute, konstatieren wir beim erschrockenen Zurückweichen, sollte man den Künstler wohl besser nicht um Erläuterung des Geschauten bitten. Wir versuchen es auf eigene Faust:

»Sugar Daddies« lesen wir in fünf Millimeter großen Prägebuchstaben an einer Stelle – Gentlemen also, die jüngere Damen mit Spesen und Spezereien für allerlei Späße und Spielereien rund um den Bauchnabel aushalten. Angelutschte Zuckerdrops prangen anstelle der Schädel auf Albrecht Dürers fast 500 Jahre alten Tafelmalerei »Die vier Apostel«. High and Low, Himmel und Hosen werden pointiert und provokant zu einem klebrigen Statement verschmolzen, das den Betrachter zur kritischen Reflexion von Werteverschiebungen in der heutigen Zeit auffordert, in der Candy und Kopulation weit höher geschätzt zu werden scheinen als Abendländisch-Kultiviertes und göttlich Erhabenes.

Ein paar Walnussleisten weiter zündet Buehler die nächste Denkgranate und lockt mit einer süßen Sahnetorte zur Auseinandersetzung mit dem Künstlersein. 1961 hat Piero Manzoni, der gern in limitierter Auflage Verdautes in Weißblech hüllte und ertragreich veräußerte, »magische Podeste« entworfen – leere Skulpturensockel: »Stell’ Dich darauf und Du bist Kunst«, so der Ansatz Manzonis. Buehlers Sahnetorte wird zur cremig-glitschigen Probebühne, auf der ein Künstler die ersten Gehversuche macht. Schuhe warten auf den Künstleraspiranten, die es zu füllen gilt. Sind die Clownspantinen ein Seitenhieb auf die heutige Spaßgesellschaft, in der ein Künstler nur zum lustigen »Aus-der-Torte-Springen« gelitten ist, also keine ernsthaften Absichten hegt oder tiefgründige Fragen aufwirft?

Das Bild ist so vielschichtig wie die Sahnetorte mehrstöckig ist: Vielleicht stand bis vor kurzem auch noch ein Künstler auf dem Konditorwerk, und die Schuhe sind das einzige Überbleibsel. Haben sich während des längeren Betrachtens nicht die im Bildhintergrund angeordneten Linienknäule zu kleinen Kissen zusammengefügt? Zu Reinigungskissen aus Stahlwolle, mit denen man bekanntermaßen im Haushalt Schmutzherden und Fleckenteufeln zuleibe rückt? Vielleicht wurde der frisch gebackenen Künstler, um ihn alltagstauglich und geschmackkonform zu machen, mit eben solchen Reinigungskissen geschrubbt, gerieben und gerubbelt. Und das so stark, daß er sich – all seiner Unzulänglichkeiten, charaktervollen Kanten, bitteren Beigeschmäckern und schmutzigen Winkeln beraubt – letzten Endes in Luft aufgelöst hat. Ohne geistreiche Künstler aber herrscht nur gähnende Leere, langweiliges Nichts – »Void«.

Buehlers Bilder verkürzen den Blick nie auf eine bestimmte Perspektive. Die Gedanken reisen frei und die Vielschichtigkeit dieser mal pointierten und mal flüchtigen Gedankenbilder ist faszinierend. Obwohl so manches einzelne Werk zur Aufgabe zwingt, noch bevor es dechiffriert werden kann, ist »Die halbe Reise« Buehlers leidenschaftliches Plädoyer für mehr Inhalt in der Bilderflut, die uns jeden Tag und jeden Wimperschlag umgibt. Buehler will Bilder nicht als gedankenlose Augenweide oder oberflächlichen Retinagloss, sondern als Kraftfutter für das Hirn.

Mitten im mentalen Geschwindigkeitsrausch, der uns noch einmal an den vielen Werken vorbeisausen lässt, entdecken wir das Statement: NOT DONE YET, das uns mit funkelnden Reflektorperlen richtungsweisend entgegenstrahlt. So sind also diese fabulösen Walnussrahmen vor unseren Augen nur die eine Hälfte einer größeren Reise? Wir werden herbeieilen, mit leuchtenden Augen und viel Traubenzucker fürs Gehirn, wenn uns Marcel Buehler die nächsten 180 harten Kopfnüsse zum Knacken freigibt.

Abb.: Marcel Buehler: Die halbe Reise, 2009 (mixed media)


Caprese. Capisci?

Capri – kennt man. „Caprese“ auch: Tomaten, Mozzarella und duftendes Basilikum schichten sich zum Klassiker aller Vorspeisen. Und die Capri-Fischer, die kennen wir auch: Sie werfen ihre Netze aus, wenn die rote Sonne im Meer versinkt, und liegen uns damit schlagermächtig seit einem Dreivierteljahrhundert in den Ohren. Ein frischer Blick auf Capri wäre willkommen – vielleicht in Form eines launigen »Capriccios«? Das Doppelwort »capo-riccio« zeichnet das skurrile Bild eines Menschen mit stacheligem Igel auf dem Kopf. Wie sähen wir also die italienische Felseninsel, wenn wir sie gekrönt mit einem »riccio di mare« auf dem Kopf, einem Seeigel aus dem morgendlichen Beifang der Capri-Fischer, anschauten?

Unter den kapriziösen Inselbewohnern sticht ein früher besonders hervor: Der römische Kaiser Tiberius. Von seinen zwölf Villen auf Capri thront die prunkvollste an der äußersten Nordspitze der Insel 300 Meter hoch über dem Meer. Die spektakuläre Terrasse des 7.000 Quadratmeter großen, achtstöckigen Palastbaus gewährt einen grandiosen Blick über den Golf von Neapel und den Vesuv. Der Kaiser pflegte hier zu speisen, darunter Köstlichkeiten wie den luxuriös geschichteten »Milcheintopf« seines weltberühmten Zeitgenossen Apicius. Man nehme, schreibt der Feinschmecker, »Malven, Mangold, Lauch, Sellerie und Kohl, füge gekochtes Huhn, Hirn, lukanische Würste, hartgekochte Eier, Zervelatwurst in Scheiben, Hühnerleber, frittierten Seefisch, einige goldgelbe Fahnenquallen, Austern und frischen Käse schichtweise hinzu, streue Pinien- und Pfefferkörner darüber, tränke das Ganze mit einer Soße aus Pfeffer, Liebstöckel, Selleriekörnern und Silphium (dem Pflanzensaft einer sündhaft teuren Fenchelart) , koche es auf, übergieße es mit einer aus rohen Eiern und Milch geschlagene Masse, pfeffre es und garniere es reichlich mit frischen Seeigeln.« Nach derart üppigem Schmaus pflegte Tiberius zu präambulieren, vorzugsweise in den weitläufigen überdachten Wandelgängen seines Palastes. Als Strandspaziergänger ist er nicht in die Annalen der Geschichte eingegangen. Dort hätten ihm die herangleitenden Wellen seine über die Füße geraffte kaiserliche Toga auch ungebührlich durchnässt.

Gut 900 Jahre später lief Sonja de Lennart eben jenen Flutsaum auf Capri entlang und ärgerte sich genau darüber: Daß nämlich die auslaufenden Wellen den Saum ihrer Hosenbeine klatschnaß machten. Die junge Münchner Modedesignerin kürzte daraufhin ihre Hose auf Dreiviertel-Länge und nannte sie nach ihrem Lieblings-Ferienziel »Capri-Hose«. Der schmale Hosenschnitt erlangte Weltruhm, als Hubert de Givenchy die Capri-Hose später Audrey Hepburn für einen Film auf den Leib schneiderte. Danach wollten alle Hose tragen: Brigitte Bardot, Marilyn Monroe und Jackie Kennedy.

Letztere bekam übrigens eines Abends Anfang der 1960er Jahre bei einem Segeltörn vor der Amalfi-Küste einen Negroni gereicht. Er sollte ihr Lieblings-Drink werden: Dunkelrot vermischten sich Gin, Wermut und Campari, und im Glas schwamm eine Orangenscheibe. Farblich nahm der Negroni die Abendröte auf, wie sie sich abends über der westlich von Amalfi liegenden Insel Capri abzeichnet. Und »wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt …« – Sie kennen das ja: Dann fahren nicht nur die Capri-Fischer aufs Meer hinaus und legen ihre Netze aus. Auch Jackie Kennedy ist auf dem Wasser und nippt an ihrem Sundowner. Ob bei der First Lady dazu der schmachtige Tango-Schlager über das Deck strich, ist nicht bekannt. Sicher ist, daß eine englische Version des Welthits bereits vierzehn Jahre zuvor die amerikanischen Charts gestürmt und sich souverän zwei Wochen auf Platz 24 gehalten hatte. Comecchessia: Alla salute!


Prime Cut aus dem Anthropozän

Das rohe Steak schimmert in saftigem Dunkelrot. Sorgfältig trägt Matthias Mross die Farbe mit senkrecht gestelltem Pinsel auf. Mit den kompakten Tupfern bildet er die Enden der sauber gekappten Muskelfasern nach. Man möchte es anfassen, dieses kühle, frische Stück Fleisch, seine weiche Elastizität fühlen. Für die Marmorierung zieht Mross feine Weißäderchen ein. Das Fettgewebe spachtelt er mit verschiedenen Weißtönen dick übereinander, bis es schmelzig glänzt. Die markanten Fettkerne klassifizieren das Steak als prächtiges Rib-Eye.

Stattliche dreieinhalb Quadratmeter misst die Auftragsarbeit. Farbsatt hängt sie im Speiseraum des Langen Hauses der Stiftung Kunst und Natur. Mross scheint die gewaltige, vornehm neutral riechende Fleischscheibe direkt aus unserer Alltagswelt geschnitten zu haben. Schon die Dimension bekundet den Fleischhunger unserer Gesellschaft. Statt »Anthropozän« könnte auch der Begriff »Rinderzeit« das aktuelle Erdzeitalter beschreiben. Denn unsere Lust auf Rindfleisch ist gewaltig. Von den 60 Kilogramm Fleisch, die wir statistisch im Jahr essen, sind rund sieben Kilogramm Rind. Unser Appetit auf Steak & Co. überformt die Erde massiv. Enorme Flächen für Weidehaltung und Futteranbau werden ge- und verbraucht. Schon heute bearbeiten wir Dreiviertel der gesamten Agrarfläche unseres Planeten für Tierhaltung. Und die Weltbevölkerung wächst: Bis zum Jahr 2050 um 30%. Und mit ihr wächst das Verlangen nach Fleisch. Allein die Vorstellung eines solch immensen Fleischbedarfs wirkt beklemmend.

Ein ganz ähnliches Unbehagen beschleicht uns, je länger wir vor Mross‘ monumentalem Fleischstück ausharren. Überwältigt schwanken wir zwischen Faszination und einem sich langsam ausbreitendem Ekel. Wir sind begeistert von der genussversprechenden Fleischqualität und vom großen malerischen Können, mit dem Mross uns einen solchen Prime Cut in radikaler Nahsicht präsentiert.

Zunehmendes Unbehagen bereitet uns neben der erdrückenden Größe des Fleischstücks die Masse des eingeschlossenen Fettgewebes. Schwellend und glibbernd schiebt es sich zu großen Klumpen zusammen. Sie bilden bei längerem Hinschauen ein großes Prozent-Zeichen.

Abb.: Matthias Cross: %, 2019 (220 x 150 cm, Acryl und Sprühdose auf Leinwand). Eine Auftragsarbeit der Stiftung Nantesbuch zu den Anthropozän-Thementagen 2019 in Kooperation mit dem MUCA München.

Um den prozentualen Fettanteil im edlen Stück, den Feinschmecker mit dem berühmten »Beef Marbling Grade« angeben, geht es hier aber kaum. Vielmehr wirft Mross die allgemeine Frage nach der Verhältnismäßigkeit auf, nach Wechselbeziehungen in Relation zu einem größeren Ganzen. Während seiner Arbeit an zarten Fleischfasern und feinen Fettmarmorierungen hört Mross tagelang Podcasts zu unserem Fleischkonsum und industrieller Fleischproduktion. »Massentierhaltung ist für bis zu 51% der von Menschen erzeugten Treibhausgase verantwortlich« tönt es durch das Studio des Künstlers. »95% des weltweit angebauten Sojas ist als Futtermittel für die Nutztierhaltung bestimmt« ist ein Fakt, die ebenso nachklingt wie die Aufrechnung, daß »nur 50% eines Nutztieres für Fleischproduktion verwendet wird. Lediglich ein Drittel machen die „edlen Teile“ des Muskelfleisches aus...« Aber für ein Gourmetstück sind die von Mross großzügig aufgespachtelten intermuskulären Fettkerne viel zu dominant. Sie offenbaren einen zu hohen und zu schnellen Ausmästungsgrad und verweisen auf die Schattenseiten großindustrieller Fleischproduktion. Das unappetitlich fette Prozent-Zeichen hat einen kräftigen kommerziellen Beigeschmack. Denn heutzutage verweist das jahrhundertealte Kaufmannssymbol in den Kühltheken der Supermärkte auf Sparangebote, Rabattaktionen und Tiefpreisknüller: Hier gibt es viel Fleisch für wenig Geld. Billiges Fleisch beruht auf einem Raubbau von ökologischen und personellen Ressourcen.

Mross‘ Marko-Ansicht der Fleischscheibe und der radikale Anschnitt des riesigen Prozent-Zeichen vermitteln eine hohe Dringlichkeit, eine unangenehme, weil zu große Nähe. Das Werk rückt uns gehörig auf die Pelle – die Kunst geht im sprichwörtlichen Sinne unter die Haut. Der dabei immer wieder aufkeimende Ekel ist ein vom Künstler wohlkalkulierter Thrill: Ins Unappetitliche oszillierende Szenarien stillen im wohlstands-sicheren, erregungsarmen Anthropozän-Alltag unseren Hunger nach Affekten. Eine latent ekelige, monströse und mit zu viel Fett durchschwabbelte Fleischscheibe fesselt da sofort unsere Aufmerksamkeit. Bewußt Hinschauen, lautet der Apell. Matthias Mross‘ monumentale Arbeit „%“ ist eine virtuos gemalte Ermunterung, uns die Bedeutung zeitgemäßen Fleischgenusses nachdrücklich ins eigene Fleisch und Blut übergehen zu lassen.

Den obigen Text habe ich für die sehr lesenswerte Publikation NOTIZEN AUS DEM ANTHROPOZÄN der Stiftung Nantesbuch Kunst und Kultur geschrieben. Das reich illustrierte Buch mit dem eingelegten Kurz-Comic "Mahlzeit" von Thomas Gilke kann dort online bestellt werden.