Black Label Shopping im Vollsortimenter
Ein erster kunstvoller Blick
Gern schlendere ich durch die Münchner Fünf Höfe, das elegante Stadtquartier von Herzog & de Meuron. Es ist Samstag früh im Monat fünf des Pandemie-Lockdowns. Nur wenig Flaneure streifen mit mir durch die Passage, als die Dauermieter grüßen: Thierry Mugler residiert – Corona sei Dank – seit über einem Jahr in den Sälen der Kunsthalle. Ein paar Schritte weiter ulkt Alberto Alessi unverdrossen zuverlässig auf seiner Schaufensterbühne, während schräg gegenüber Giorgio Armani wieder einmal mit stoischer Grandezza die imaginäre Biscotti-Krümel von seinen verwaisten Caffè-Tischen wischt.
Heute empfinde ich auf meinem Weg zum Supermarkt eine gewisse Vorfreude. Außergewöhnlich! Normalerweise ist der Gang zum Vollsortimenter lästige Routine. Das Einsammeln bekannter Lebensmittel erfolgt im geistigen Stand-By innerhalb der Komfortzone meines etablierten Food-Radiuses. Doch heute ist etwas anders. Heute schlüpfe ich in die Rolle des Black Label Shoppers. Denn es geht um wertvolle Einzelstücke, Luxusartikel, Kunst-Unikate, die mit kleinen schwarzen Bild-Schildchen gekennzeichnet worden sind. Eine Warenwelt wundervoll durchzogen von frischer hoher Kunst. Das wird ein Spaß! Der Erlebnishöhepunkt liegt allerdings ziemlich tief. Rein räumlich gesehen. Black Label Shopper tummeln sich gern in höheren Sphären. Bei Saks Fifth Avenue beispielsweise gilt der der Third Floor als bevorzugtes Pirschgebiet. In München geht’s zum Black Label Shopping direkt ins Souterrain: Unter der gewaltigen „Sphere“ von Olafur Eliasson hindurchgeduckt gleich links hinab in die verheißungsvolle feinsinnige Welt von REWE Premium.
Eigentlich alles chic wie immer… Doch schon im ersten Ganz des Regalspaliers, eingekeilt zwischen Süßwaren und Eistee, türmt sich eine unüberwindbare Barriere.
541 Packungen Prinzenrolle blockieren meterhoch den Durchgang. Selbst den Sockellichtstreifen der Regale hat Thomas Rentmeister mit seiner Installation gekappt. Bis hierher und nicht weiter! Das Angehaltenwerden wird rasch zum freiwilligen Innehalten, die Zumutung wird anmutig. Der Künstler versteht es, ein industriell gefertigtes Massenprodukt derart repetitiv zu stapeln und raumgreifend zu positionieren, dass ein Meisterstück des zeitgenössischen Minimalismus daraus entsteht. Die kakaocremegefüllte Installation hat keine Schokoladenseite, vielmehr zwei vollkommen eigenständige Schauseiten, je nachdem, ob man die Standböden oder Oberseiten der Prinzenrollen ins Visier nimmt. Dank der überlappenden Umschlagfalzen wirken die Böden wabenartig luftig, während die Oberseiten zu einer monochrome blaue Wand verschmelzen.
Wie essen Sie eigentlich Ihren Doppelkeks? Vertilgen Sie ihn hälftig mit gewaltigem Haps? Oder knabbern Sie genüßlich den überstehenden Keksrand rundherum ab? Oder drehen Sie gar die Hälften auseinander, um die mit den anhaftenden Kakaotaler zu einem Double-fill-Sandwich zusammenzupressen? Rentmeisters Sackgasse bewirkt Erstaunliches: Wo sonst die Kleinen quengeln, entspinnen Erwachsene kulinarische Fachgespräche. Konstant hohes Niveau gibt es auch beim Preis. Trotz augenzwinkernden Mengenrabatts – 10% Discount ab 5 qm – wird hier nichts verschenkt. Also: Rolle rückwärts, und weiter geht’s! Nach dem Süßen zieht es mich zum Frischen.
Vereinzelung in der Obstabteilung ist man gewohnt: Besondere Prachtexemplare der Angebotssorten werden mit „Flugware“-Aufklebern geadelt, behutsam auf rautenförmige Schaumstoffnetze gebettet oder gelegentlich in raschelndes Seidenpapier eingeschlagen. Eine Wassermelone unter einer Plexiglashaube, verschraubt mit dem Regalfach und versehen mit dem Hinweis „Bitte nicht anfassen“, ist selbst mir noch nicht untergekommen. Auch die Sorte ist neu: „Mars-Melone“ zeigt das Black Label Schildchen. Gemessen am 56 Mio. Kilometer langen Transportweg vom roten Planeten zur Erde scheint diese grüne Melone mit 16.000 EUR das Stück recht günstig ausgepreist.
Geschaffen hat sie Alicja Kwade, Fixstern am zeitgenössischen Kunst-Firmament. Und Planeten sind ihr Ding. Den Himmel materialisiert Kwade schon mal mit strahlend blauem Quarzit auf dem Biennale-Kunstweg im holländischen Drenthe, bevor sie auf dem Dach des New Yorker Metropolitan Museums ein ganzen Planetensystem installiert. Hier nun ihre Mars-Melone. Herrlich aktuell, denn genau jetzt arbeitet sich der NASA-Rover „Perseverance“ mit seinem Heli durch den Staub des Jezero-Krater, einem trockengefallenen See auf dem Mars. Wasser ist mit das kostbarste Gut im All. Schon auf der ISS wird jeder Tropfen, der beim Zähneputzen ausgespuckt wird und beim Duschen übrigbleibt oder durch Schweiß und Urin anfällt, aufgefangen und aufbereitet. Eine Wassermelone mit 95% Wasseranteil im Fruchtfleisch erscheint da wie ein Geschenk des Himmels! Dem rastlosen, (see)reisenden Menschen ist sie seit einem halben Jahrtausend ein bewährter Flüssigkeitsspender. Warum nicht auch für Astronauten? Im All werden bereits Gurken, Tomaten, Römersalat, Paprika und Erdbeeren gezüchtet. Vielleicht schon bald echte Mars-Melonen? Wer Kwades Exemplar in Preis und Gewicht (solider Bronzeguß) astronomisch findet, greift links daneben: Hier ist eine Mini-Wassermelone aus Costa Rica für bodenständige 3,49 EUR das Stück zu erwerben. Ebenfalls Klasse 1.
Entzückt bummle ich am Gemüseregal entlang weiter zur „Gastro to go.“ – „Aloha; was haben wir denn hier?“, flüstere ich erstaunt. Anstelle appetitlichen Gedränges vieler herzhafter Snacks herrscht in der Auslage der Heißtheke abgezirkelter Abstand: Sieben schmelzende Toast-Hawaii verharren in großzügiger Entfernung voneinander und formen auf schwarzem Metall ein käsegoldenes „H“. Mittelstrich – Mittelstück des Buchstabens bildet Chris Knechts täuschend echt gearbeitete Skulptur des überbackenen Sandwiches mit hervorlugender Schinkenscheibe. „Öl auf Bronze“, konstatiert das Black Label Schildchen. Die Kombination von Edelmetall und Fleischscheibe hat erst seit kurzem einen Beigeschmack: Seinerzeit verbrannte sich in Dubai ein Bayern-Fußballstar an einem Blattgold-Steak gehörig die Finger. Da war Knechts bronzener Toast Hawaii schon acht Jahre servierfertig und in den Kanon der Koch-Kunst aufgenommen.
Selbst die Ananas allein ist jedes Kunstwerks würdig. Seit dem 17. Jahrhundert ist sie ein Statussymbol. Kolumbus bekam Prachtstück geschenkt, und nach Atlantikquerung derselben versuchten sich etliche europäische Adelshäuser im komplizierten Anbau. Da dieser nur höchst selten gelang, war sie die so teuer wie eine Kutsche. Zum Beeindrucken seiner Gäste konnte man sich eine Ananas als Tischschmuck tageweise mieten – ähnlich wie heutzutage ein Diamantcollier zur Met-Gala in New York. Die sündhaft teure Mietfrucht auf dem Festbankett wurde nie gegessen.
Um Ananas zu einem Alltagsprodukt zu machen, brauchte es einen 22 Jahre jungen Harvard-Absolventen. Der gründete 1901 das Frucht-Start-Up Dole auf Hawaii und nutzte eine Schälmaschine, die 85 Ananas pro Minute auf Dosenformat trimmte. Der Toast Hawaii lag in Reichweite. Dosenananas exportiert heute die thailändische Region Pranburi. Aus Hawaii kommen nur noch die gleichnamigen Hemden mit dem farbenfrohen groß-gemusterten Print. Elvis Presley machte sie Anfang der 1960er Jahre in Deutschland populär. Der Toast Hawaii war da schon seit mehr als fünf Jahren in aller Munde. Doch dem King schmeckte ein anderer fruchtig-herzhafter Grill-Sandwich besser: Elvis Presely liebte den „Fool’s Gold Loaf“: Bananenscheiben und knusprigen Speck lagen auf einem dick mit Peanut-Butter bestrichenen Sauerteigbrot.
Der Teig für eben jenes Brot lagert eine Ecke weiter im Getränke-Kühlregal. Zwischen elegant hochgewachsenen Champagnerflaschen aus den ehrwürdigen Grandes Maisons Pommery, Moët, Veuve Cliquot und Ruinart hockt grobschlächtig im breiten Weck-Glas Peter Langenhahns blass aufgequollene Roggensauerteig.
Und doch teilen beide Nahrungsmittel, die äußerlich unterschiedlicher nicht sein könnten, den gleichen Treibstoff: Hefepilze. Sie sind es, die moussieren und fermentieren, die für Perlen im Glas und Poren in der Krume sorgen und das Aroma tragen. Neben aller wohlwollend ausgewogenen Wertschätzung gärt dennoch der Reflex zum Werturteil. Wie kann man einen so plumpen Teigbatz nur zu so feiner Gesellschaft stellen? Roggensauerteig in diesem Vergleich als „Hochkultur“ zu titulieren? Ich bitte Sie! Leise bemerke ich eine faszinierende Umwertung. Ist in allem Überfluß der schönen Flaschen und verschwenderischen Perlage nicht das einfache, handgemachte Brot der wahre Luxus? Ich mag mich nicht entscheiden und freue mich einfach an der inspirierenden Platzierung des Werks.
Ein Bummel entlang der Sushi-Bar bringt ich zur Käsetheke. Auf der Glashaube derselben erwartet mich eine Rarität: „La Vache quir rit“, französischer Schmelzkäse – 72 Monate gereift. Das seit einem guten halben Jahrzehnt überschrittene Mindesthaltbarkeitsdatum läßt den Black-Label-Vermerk „unverkäuflich“ als fürsorglichen Gesundheitshinweis erscheinen. Ein wenig neidisch bin ich schon auf den generösen Besitzer und Leihgeber dieser exquisiten Arbeit von Thomas Bayrle. Der Piktogramm-Virtuose zeichnet im eingefärbten All-Over-Muster des grinsenden Huftiers ein Frauenkopf nach – angeblich das Mädchen vom Lande, das ins große Paris kommt.
630 Mädchenkopf-Käseschachteln hat Bayrle für den Hersteller Bel gefertigt, der seit 2014 zeitgenössische Künstler Verpackungen in limitierten Editionen veredeln läßt. Diese Sammlerstücke von Bayrle, Hans-Peter Feldmann, Jonathan Monk, Wim Delvoye, Karin Sander, Daniel Buren und – aktuell – Mel Bochner kann man zum regulären Preis im westlich des Bois de Boulogne gelegenen Lab Bel, im Online-Shop und in ausgewählten E.Leclerc-Märkten kaufen. Nur leider hier und heute im REWE nicht – da „unverkäuflich“. Wirklich Leider. Und irgendwie erleichternd – denn wie hätte ich mich beim Kauf eines frischen Bayrle entscheiden sollen? Hätte ich das Gesamtwerk mit Käse bewahrt? Oder den Inhalt verspeist, und eine leergefutterte Editionsschachtel in die Vitrine gestellt? Die zweite Wahl scheint zumindest olfaktorisch ein zufriedenstellendes Langzeitergebnis zu liefern.
Apropos Frankreich und Käse: In Pandemie-Zeiten ist der Käse-Konsum unserer westlichen Nachbarn nicht merklich gestiegen. Wohl aber– so kolportierte es die Presse vor gut einem Jahr – zogen in Frankreich der Verbrauch von Rotwein und Präservativen merklich an. Die Interessen in der Bundesrepublik waren weit weniger wildromantisch. Wir nahmen die Ansage nach sozialer Distanz ernst und zogen uns – gedanklich – bis in den hintersten Winkel unser eigenen Wohnungen zurück, ganz weit, allein aufs stille Örtchen. Folgerichtig brauchten wir für die imaginierten Monate totaler Selbstisolation auf dem Wasserklosett ausreichende Mengen Klopapier. „Völlig von der Rolle“ bespöttelte die FAZ Anfang März 2020 unsere Hamsterkäufe nach dem begehrten Gut. Wir trieben die Nachfrage nach samtweicher Abroll-Perforation um 70% in die Höhe, so daß wir wochenlang vor leeren Toilettenpapierregalen standen und Nachlieferungen streng rationiert wurden. Eine heikle Hakle-Situation. Rückblickend wirkt diese Sturm-und-Drang-Phase deutlich überreizt.
Umso schöner ist die kunstvolle Vergangenheitsbewältigung, die uns Esther Zahel mit Ihrer phantastischen Assemblage im Hygieneartikelbereich offeriert. Neun geheimnisvoll durchgefärbte Toilettenpapierrollen funkeln auf Augenhöhe, davor drei Rollen zum direkten Herunterspulen, Abreißen und – Falten. Nur nicht knüllen! Denn auf jedes Dreilagenblatt legt die Künstlerin ein tiefsinniges Textgitter: „Das Universum in einer Klorolle.“ Insgesamt sechs Blätter brauche ich, um die drei Kapitel vom „Irrelevanten“ bis zum „Wächter des Orakels“ vollständig lesen und intellektuell verdauen zu können. Sechs Blätter – zwooosch, abgerissen. Ist das schon Hamstern?
Versöhnt mit allen Facetten des Seins und kunstinspiriert bis hinauf in die Haarspitzen eile ich federnden Schritts zur Kasse. „Consommer ou mourir“, donnert mir das kantige Trio der Warentrenner auf dem Kassenband entgegen. „Herrje“, murmle ich und lese das dahinter aufgepflanzte Schild „Diese Kasse ist gerade geschlossen“. Diese Sackgasse wird mir doch ein wenig zu existenzialistisch, und so drängle ich munter ans benachbarte Band. Auch hier war Milen Till fleißig und zitiert Barbara Kruger’s weltberühmten „Truisim“: „I shop therefore I am.“
Wie wahr, wie wahr, schmunzle ich, und vergewissere mich mit einem Schulterblick des wahrhaft großartigen Kunstgenusses in diesem Supermarkt. Ein Black Label Spektakel mit 20 Kunststationen, die aufs Schönste zeigen, wie Kunst prägnant in den Alltag diffundieren kann.
Die Treppe hinaufrollend hinein ins Tageslicht der Fünf Höfe zieht es mich eigentlich direkt gegenüber ins Victorian Teahouse zum kurzen Innehalten und Nachklingen bei einer Tasse Gunpowder. Aber die Gyosas müssen in den Kühlschrank – der Alltag hat mich wieder.
GROSSEN DANK
an die Kuratorin Nata Togliatti und die Veranstalter: Husein Dugonijc (REWE Premium Fünf Höfe), Alexander Rußler (REWE Group), Dr. Sabine Adler, ERES-Stiftung Kunst + Wissenschaft / München, Professor Florian Matzner, Akademie der Bildenden Künste / München und Sarah Haugeneder, Louis Vuitton Deutschland,
sowie
alle Künstlerinnen und Künstler:
Tornike Abuladze, Thomas Bayrle, Natalyia Borushchak, Miriam Ferstl, Gregor Hildebrandt, Chistian Jankowski, Chris Knecht, Daniela & Lara Koch, Peter Kogler, Schirin Kretschmann, Alicja Kwade, Peter Langenhahn, Jaemin Lee, Thomas Rentmeister, Michael Sailstorfer, Johanna Strobel, Milen Till, Nata Togliatti und Esther Zahel.