»Schwarze Sonne«

Lieber Eiko,

draußen über der Marsch steht die Nacht. Vor mir ausgebreitet liegen 18 Monotypien aus Deiner Mappe »Sort Sol / Schwarze Sonne«. Zwischen den wuchtigen Blättern dampft munter einer Espresso. Der schwarze Trank entzünde die Nerven, sagte der Nachtarbeiter Balzac, und lassen Funken sprühen bis ins Gehirn hinauf.

Befeuert vom Willen, die Tiefgründigkeit Deiner eindringlichen Flachdrucke in Worte zu fassen, greife ich zu Stift und Papier. Erschüttert vom Kontrastdonner zwischen Druckerschwärze und Sternenwolkenweiß durchmißt das Auge Deine gewaltigen Bildräume. Die Weite der Landschaft und der hohe Himmel, der über ihr wacht, vertreiben kleinliche Gedanken ebenso nachdrücklich wie Deine große malerische Geste. Kühn greift die Phantasie nach der dargebotenen Möglichkeit, größere Zusammenhänge zu erschauen: Die Nachtdämmer und Schwarm-verdunkelten Sonnen weiten sich ins Überzeitliche und lassen an das Zwielicht der Schöpfungstage denken, an biblische Plagen und endzeitliche Finsternis.

Im Herzen des Gotteskooges hast Du diese Monotypien erschaffen, in diesem Urzeit-atmenden Tiefland. Du hast sie erkannt, die verborgene Urkraft dieser Landschaft, verdichtet und verbildlicht. Du zeigst die Gegend der weiten Blicke nicht wie sie aussieht, sondern wie sie sich anfühlt. Ihre überzeitliche Grandeur spürst Du im Dämmerlicht auf und im glimmenden Nachtfirmament – dann, wenn unser Auge von der bunten, zappeligen Alltagswelt befreit ist. Mit ihrer triumphalen innerbildlichen Größe und dem ihnen innenwohnenden Gefühl der Freiheit zwingen uns Deine Arbeiten aufs Schönste zum Nachsinnen. Was bedeuten grenzenlos struppige Weiten, unendliche Dämmerhimmel, Abdrücke erodierter Vegetation und in gleißendes Blendlicht geworfene Wildtiere?

Deine »Sort Sol / Schwarze Sonne« Arbeiten fragen nach dem Rauheitsgrad der Schönheit, schreien stumm gegen die Vergänglichkeit und sind Sinnbilder einer stillen Sehnsucht nach Verwurzelung und Heimat.

Das distinguierte Hochplateau Deiner früheren Arbeiten – detailversessen feine Bleistiftzeichnungen – hast Du verlassen für einen Gewaltritt ins Tiefland des instinktiv sinnlichen Druckhandwerks. Deine neu entdeckte Freude am unmittelbaren, freien Ausdruck belebt die Werke: Mit Fingerkuppen, Handballen, Pinseln und Lappen scheinst Du in den malerischen Prozeduren zu schwelgen, die dem einmaligen Druck jeder einzelnen Monotypie vorauseilen: Du streichst, wischt, kratzt, lasierst, tupfst, schabst, reißt, klebst und collagierst mit furioser Leidenschaft bis eine ergreifend spröde Schönheit das Werk durchbebt. Deine Bildwelten bannst Du auf gebrauchtes, vergilbtes, antiquarisches Papier: So weitet sich eine Landschaft kraftvoll gelassen auf dem unerbittlich strengen Linienraster eines alten Kontobuchs. Einmal wird uns gewiß die Rechnung präsentiert, schreibt der Kirchenmann Zanetti, »für den Wind, den Vogelflug und das Gras, … für die Luft, die wir geatmet haben, und den Blick auf die Sterne – und für all die Tage, die Abende und Nächte. Einmal wird es Zeit, daß wir aufbrechen und bezahlen … Doch wir haben die Rechnung ohne den Wirt gemacht: ‚Ich habe Euch eingeladen‘, sagt er und lacht, ‚es war mir ein Vergnügen.’«

In stillen Augenblicken ergreift mich immer wieder eine leise religiöse Ehrfurcht vor der Schönheit des Gotteskooges, der Du im Zwielicht mit der von Dir so geliebten Baudelaireschen Melancholie in 150 »Sort Sol / Schwarze Sonne«-Monotypien ein bildnerisches Denkmal gesetzt hast. So vereinen sich denn auch auf einem Deiner Blätter zwei tiefschwarze, weit über das Papier hinausstoßende Balken zu einem gewaltigen Markierungskreuz: Eiko Borcherding was here, and left his mark.

Es grüßt Dich herzlich aus der nächtlichen Marsch – ein großer Freund Deiner Kunst.

Abb.: Eiko Borcherding: Sort Sol, 2010 (Monotypie und Gouache, 42 x 29,7 cm); Eiko Borcherding: Sort Sol, 2010 (Monotypie und Gouache, 29,7 x 42 cm)